Dienstag, 8. Mai 2018

Venice Beach, Iron Butterfly und Albert Einstein.


Vor zwei Jahren habe ich eines meiner sehnlichsten Lebensziele verwirklicht: Dank der Initiative meiner lieben Frau bin ich endlich im Haight-Ashbury-Distrikt in San Francisco gestanden, genau dort, wo der “Summer of Love” passiert ist. Da erinnern noch diverse Plaketten an wichtige Stätten, zum Beispiel  die Free Medical Clinic, wo die ausgehungerten Hippie-Kinder (die sich meist ohne ausreichende Verpflegung und ohne Geld in einer gar nicht so liebevollen Umgebung wiederfanden) reihenweise mit Überdosen von damals noch neuartigen Rauschmitteln eingeliefert wurden - Ketamin zuerst, dann ziemlich reines Sandoz-LSD.


Natürlich ist das Haight inzwischen sowas wie ein schmutziges Museum. Flower Power ist ewig lange vorbei, immerhin versuchen die letzten Protagonisten der Gegenkultur mittels dem Verkauf von Souvenirs ihr Überleben zu fristen, da ist der touristische Touch schon ok. Ein übergroßer Held dort ist natürlich Grateful Dead-Gitarrist Jerry Garcia. Dessen Konterfei ist auf vielen Häuserwänden zu sehen, samt ungelenk gesprayten “Jerry Lives”-Parolen. Grateful Dead hatten ja in ihrer frühen Zeit im Haight ihr Haus samt Probenraum und gelten dort auch heute noch als diejenigen, die es “geschafft haben”.


Etwas weniger museal geht es am Venice Beach nahe Los Angeles zu, den wir im darauffolgenden Jahr besuchten. Noch touristischer als das Haight, dafür auch lebendiger, weil es dort noch immer die berühmten Boardwalk Musicians gibt: großteils obdachlose Musiker, die von morgens bis abends (nach Einbruch der Dunkelheit ist es verboten) die vorbeiflankierenden Besuchermassen mehr oder weniger unterhalten. Viele der sich dort ständig aufhaltenden Menschen sind zu Berühmtheiten geworden, wie der uralte Opa zum Beispiel, der auf seiner Gitarre mit umgehängtem Miniverstärker krächzende Solos jaulen lässt, die (mit viel Fantasie) an den seligen Jimi Hendrix erinnern.

Was macht ein Stoner als ERSTES am Venice Beach?
Die üblichen Wahnsinnigen sind natürlich auch ein Teil des Venice Beach - zum Beispiel der arme junge Mann, der sich bei unserem Besuch einen Flyer auf die Stirn getackert hatte und am Venice Beach auf- und ablief, um mit blutüberströmten Gesicht alle 5 Meter stehenzubleiben und ohrenbetäubend laut “Why?” zu kreischen. Sowas erregt dort allerdings keine besondere Aufmerksamkeit; wird also vermutlich als "Entertainment" wahrgenommen.


Inmitten all dieses bunten Wahnsinns, im Auge des Sturms sozusagen aber thront ER - eine Mischung aus Franz Liszt, Liberace und Glenn Gould. Von seinen langen, verfilzten Haaren verdeckt, konzentriert über sein Klavier auf Rollen gebeugt, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. So spielt er jeden Tag klassische Kompositionen von Bach bis Chopin; fehlerfrei und mit viel Verve. Sein Name ist Nathan Pino, und er bespielt den Venice Beach freiwillig seit vielen, vielen Jahren.
 Wenn man Nathan Pino googelt , fördert man erstaunliches zutage: Er war in den 1970er-Jahren Tourmusiker für und eine ganz kurze Zeit (1979) sogar einmal Teil des legendären One-Hit-Wonders Iron Butterfly.


Iron Butterfly (Photo von web.musicaficionado.com)
Iron Butterfly sind eine der genialst absurdesten Bands ever. Die (heute noch existierende!) Formation wurde 1966 gegründet und hatte mit dem bei Pfarrdiscos in meiner Jugend sehr beliebten “In-A-Gadda-Da-Vida” ihren ersten (und auch einzigen) Hit, wohl hauptsächlich aufgrund des ikonischen Schlagzeugsolos. Richtig legendär ist ihre Geschichte: es gibt wohl keine Band mit mehr Reunions, Besetzungswechseln und verstorbenen Mitgliedern (fünf sind es glaube ich inzwischen). In die Charts kamen sie nach ihrem 1968 mit Platin ausgezeichneten Hit-Album nie mehr, trotz 52-jähriger Bandhistory und unzähligen weiteren Versuchen.

Mystery Man: Philip Taylor Kramer
Legendär auch Philip Taylor Kramer, Iron Butterfly-Bassist 1974-1977: Der war eigentlich ein mathematisches Wunderkind, betrieb zusammen mit Randy Jackson (Bruder von Michael) eine kurzlebige Firma namens Total Multimedia Inc.(Datenkompression auf CD-Roms), arbeitete in einer dem US-Verteidingsministerium nahestehenden Firma an einem System für Lenkraketen und soll der Legende nach schließlich eine Formel entwickelt haben, die Einstein’s Relativitätstheorie ausser Kraft gesetzt hätte.¹

Bergung von P.T. Kramers Überresten in Malibu, 1999
 Besonders letzteres bleibt Spekulation, denn am 12. Februar 1995, auf der Fahrt mit seinem Auto zum Flughafen von Los Angeles, tätigte Kramer eine Reihe von seltsamen Telefonanrufen an Freunde und Familienangehörige und verschwand kurz darauf spurlos. Erst vier Jahre später wurde seine skelettierte Leiche samt Auto in der Nähe von Malibu aufgefunden. Von der Polizei damals als Selbstmord zu den Akten gelegt, bestreitet die Familie des Verstorbenen bis heute vehement diverse Suizidabsichten; sogar der englische Wikipedia-Artikel zum Thema räumt ein: “However, there are implications of foul play”.²

Nathan Pino wiederum, kurzzeitiger Organist bei Iron Butterfly, wurde das ganze Musik-Business zu viel - er stieg aus, nicht nur bei Iron Butterfly, sondern überhaupt aus seiner gesamten bisherigen Existenz. ³ Seitdem bespielt er den Boardwalk am Venice Beach, denn davon hatte er bereits als Kind geträumt.


Falls ihr einmal am Venice Beach seid, geht einfach so lange dem Strand entlang, bis ihr (hoffentlich noch immer) wunderbare, klassische Klaviermusik hört - und zollt dem großen Nathan Pino Respekt. Über ausreichende Spenden ist der Vollblutmusiker übrigens sehr, sehr dankbar.

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¹ ausführliche Informationen zu dem Fall hier und hier.
² zitiert von Wikipedia
³ Feature über Nathan Pino (2013)

Nathan Pino auf Twitter. (bis 2015)



Photocredits: Sofern nicht anders angegeben, © Doc Nachtstrom & Juliane Brantner.

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