Sonntag, 6. Mai 2018

Das grüne Auge.

Das Medium “Radio” wird bekanntlicherweise immer obsoleter - in Zeiten von Social Media, Youtube und Spotify ist das ein Phänomen, dem man gerade tatsächlich beim Verschwinden zusehen kann.

Abgesehen vom werbefinanzierten Hintergrundgeräusch der meisten UKW-Sender gibt es natürlich auch noch "Spartenradio" - für eine verschwindend geringe Elite allerdings, die aber für hochqualitativen Content wohl eher nicht in die eigene Tasche greifen würde; und so werden diese (wenigen) Qualitäts-Sender in absehbarer Zeit auch einfach nicht mehr finanzierbar sein.

Vielleicht sollte man das Radio ja als universelles Musik- und Unterhaltungsinstrument wiederentdecken, und damit meine ich keine Unterhaltungssender auf UKW. Ich stamme noch aus einer Zeit, in der es ganz normal war, im Wohnzimmer den mächtigen Radioapparat des Großvaters stehen zu haben. Dessen grünes Auge war für mich als Kind immer das Versprechen einer unfassbar spannenden Welt. Dreh an den mächtigen Knöpfen, beobachte das elegante Gleiten der Nadel in gelblichem Licht über magische Namen wie Oslo, Brüssel, Straßburg oder Berlin.

Und hör zu… aus dem wilden Rauschen schälen sich geisterhafte Stimmen in unbekannten Sprachen, Töne, die nicht von dieser Welt sein können. Stunden über Stunden habe ich gebannt vor diesem wundersamen Gerät verbracht, verwundert, ängstlich, aber immer extrem neugierig. Was war das für eine unsichtbare, unheimliche Welt, die alles durchdrang?


So wie mir ging es natürlich auch vielen anderen Menschen, in meiner Generation und in den Generationen zuvor. Zum Beispiel Tod Dockstader (1932 - 2015), ein legendärer amerikanischer Komponist elektroakustischer Musik: In einem ausführlichen Feature in der britischen Musikzeitschrift The Wire erfuhr man von seinen prägenden Kindheitserlebnissen mit dem Thema Radio. Ein Auschnitt:

Growing up in St Paul, Minnesota in the 1930s, Dockstader suffered from an extreme form of eczema that often required whole summers to be spent in hospital, submerged in baths against possible infection, plus long hours passed alone in a darkened room, reading books and listening to the radio. “I lived with that radio,” he recalls, “because that was the medium for the imagination. The radio then wasn’t like we have now. In those days there were all kinds of stories, plays and the use of sound effects, music… that was a real world. That was my window.”

   
[...] As a small child in the 1930s, listening in the dark to broadcasts of speeches and rallies relayed directly from Nazi Germany, this descent into echoing choral antiphony was all too real. “They’d play these things when I was little,” Dockstader explains, “and I remember the terror not so much of the voices themselves, although they were pretty scary too, but the combination of the voices with the roaring that’s on shortwave radio - these outer space sounds going on behind them, non-human, chiming in. 

“I’d lie with my ear stuck right by the radio so I wouldn’t wake up my parents,” he says. “I was always fascinated when it went wrong. Most people would turn their radios off but I’d leave mine on. Somebody would make a mistake, but there was still a presence I could hear. That interested me. I always thought radio was a great mystery.”


[...] “Tuning through an old radio dial put you in touch with the space between stations, a mysterious zone of harmonies and distortions that existed and functioned according to a strange and distinct logic. “A lot of really funny things would happen,” he concurs. “You know, two stations would get off-frequency and their signals would start colliding, so you’d hear something that sounded like a demented carousel or a pipe organ gone badly wrong. The old tube radios were very imprecise. We had a lot of storms in Minnesota, so you’d have atmospherics that would come onto the frequency. Sometimes it was like a cosmic breathing or something.” ¹

  
Die Worte dieses alten, weisen Komponisten drücken so ziemlich all das aus, was ich als Kind ebenso empfunden habe. Und das prägt auch, diese Faszination mit dem “Rauschen” lässt einen nie wieder ganz los. Im Alter von 70 Jahren hat Tod Dockstader übrigens noch ein grosses Werk geschaffen, das als Tribut an seine frühen Radioerlebnisse gesehen werden darf. “Aerial” erstreckt sich in mehreren Teilen über insgesamt drei Releases und gehört zu den Highlights meiner Musiksammlung. Alle Sounds, die du da hörst, wurden von Dockstader selbst von alten Radioapparaten aufgenommen und im Computer so lange prozessiert, bis sie sich zu einer epischen (und überraschenderweise sehr harmonischen und hörbaren) Symphonie verbinden.

In dieser mysteriösen Schattenwelt aus aufgetürmten und schnell wieder zerfließenden Rauschkaskaden verbergen sich noch einige spannende Geheimnisse; über das sog. “Utility Radio” auf Langwelle, die teilweise noch immer funktionsfähigen “Spy Number Stations” und die wundersamen Tonbandstimmenforscher ab Mitte des vorigen Jahrhunderts wird hier auf jeden Fall noch ausführlich berichtet werden.

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¹ Zitiert aus einem Interview von Tod Dockstader mit Ken Hollings 2005 für The Wire. Das ganze Interview kann man hier nachlesen.




 

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